von Sascha „Andronenreiter“ Vennemann
Ralph Smith und Lauren Guinness standen um das Ding herum und runzelten die Stirn. „Ist es das, für das ich es halte?“, fragte die Kommandantin des EWATs ihren Kopiloten, worauf dieser nur mit den Schultern zuckte.
„Holen wir Darius, das ist ein Fall für ihn“, schlug er vor und schaltete die Verbindung seines im Schutzanzug integrierten Mikrofons von Lauren auf die internen Lautsprecher des Gefährts, das sie bis jetzt zuverlässig durch die Wälder nördlich von London gebracht hatte.
„Hey, Darius, kommen Sie mal her, es gibt Arbeit für Sie!“
Ein herzhaftes Gähnen, das Rascheln von Kleidung und ein gemurmeltes „Bin schon unterwegs …“, drang als Antwort aus den Helmlautsprechern des Erkundungstrupps. Mit einem vernehmlichen Knacken wurde die Verbindung unterbrochen.
Ralph benutzte das kleine Display am rechten Handgelenk seines Anzuges, um den Funk wieder nur auf Lauren einzustellen. „Wir sollten uns noch etwas umschauen. Darius wird einen Moment brauchen, um seine Montur komplett anzulegen, und wer weiß, ob hier noch mehr solcher Dinger rumliegen …“
Lauren stimmte zu und sie setzten die Erkundung der Umgebung fort.
Eine Luke an der Seite des Fahrzeugs öffnete sich und ein kahler Kopf in einer Glaskugel lugte aus dem Schott des EWATs. Darius Smolsky ließ den Blick über die Lichtung streifen, während er nach den anderen Mitgliedern seines Teams Ausschau hielt. Seit einigen Wochen war ihre kleine Gruppe von fünf Leuten aus der Community London nun unterwegs, um erste Daten für ein Forschungsprojekt zu sammeln. Die Queen hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine komplette Liste mit allen Pflanzen und Tieren Britanas aufzustellen, um diese dann mit den historischen Daten aus Biologie-Lexika des 21. Jahrhunderts vergleichen zu können.
Mutationen und eventuell sogar neu entstandene Spezies konnten so besser erfasst werden. Gleichzeitig erhofften sich vor allem die Biologen Erkenntnisse darüber, wie die Evolution in den letzten Jahrhunderten seit dem Kometeneinschlag vor sich gegangen war. Wie hatten sich die wild lebenden Tiere der veränderten Welt angepasst? Welche Arten waren möglicherweise ausgestorben oder in Gebiete mit anderen klimatischen Bedingungen ausgewandert?
Wie auch immer, sie waren als eines der ersten Teams damit betraut worden, schon einmal eine Art „Testlauf“ für die noch folgenden Expeditionen zu machen und dabei verschiedene Vorgehensweisen auszuprobieren. Eine davon war der Spähtrupp, der zunächst zu Fuß die Gegend auskundschaften sollte. Dabei konnten sie Tierbauten, Brut- und Nistplätze und vielleicht auch Herden ausfindig machen, die ihnen beim bloßen Herumfahren mit den EWAT entgangen wären. Außerdem konnten manche scheuen Arten bei dem Geräuschpegel ihres Fahrzeugs das Weite suchen, bevor man sie erfasst hatte.
Darius war der Biologe der kleinen Gruppe aus Bunkermenschen und somit das Herzstück der ganzen Operation, wenn es darum ging, die Aufzeichnungen zu erstellen. Die anderen beiden Besatzungsmitglieder, der Pilot und eine Medizinerin, waren zu Fuß in eine andere Himmelsrichtung aufgebrochen und würden ihn kontaktieren, sobald auch sie etwas Interessantes gefunden hatten.
Er stieg erst vollends aus dem EWAT, nachdem er Lauren Guinness entdeckt hatte, die am Rand der weitläufigen Lichtung stand und winkte. Das Schott hinter ihm glitt beinahe lautlos zu, aber deutlich war das Zischen zu hören, das die Schleuse hermetisch verschloss und von den todbringenden Keimen reinigte, die jeden ungeschützten Bunkerbewohner innerhalb von wenigen Minuten umgebracht hätten.
Nicht zum ersten Mal, während er sich in freier Natur bewegte, dachte Darius, wie schön es wäre, auch das Gras einmal wirklich unter seinen nackten Füßen zu spüren. Aber das würde wohl ein Traum bleiben, falls nicht eines Tages ein Wunder geschah und die körpereigenen Abwehrkräfte in irgendeiner Weise regeneriert werden konnten. Vorerst blieb ihm nur, mit seinen Stiefeln tiefe Abdrücke im wildwachsenden Rasen zu hinterlassen und hier und dort eine Blume zu pflücken und in eigens dafür konzipierte Plastiktüten einzuschweißen, um sie später in einem gesicherten Labor zu untersuchen.
Der Biologe näherte sich der Kommandantin weiter, ohne dieses Mal groß auf die botanische Vielfalt der Lichtung zu achten, und betätigte den Helmfunk. „Ist es hier?“
„Nein, wir müssen noch weiter in das Waldgebiet hinein. In etwa fünfzig Metern gibt es eine kleine Felsformation, keine zehn Meter hoch und eigentlich nur steinernes Gerümpel, das in der Landschaft liegt.“
Gemächlich gingen sie durch eine kleine Schneise zwischen den dichtstehenden Bäumen, immer darauf achtend, dass die dornigen Ranken niedriger Büsche nicht ihre Schutzanzüge beschädigten. Das Material war zwar einigermaßen stabil, aber sie beide wussten, dass man sein Glück nicht unnötig aufs Spiel setzen musste – auch nicht im Dienste der Wissenschaft.
Als sie bei den Felsen ankamen, kniete sich Ralph ins Gras und besah sich die Sache noch einmal aus der Nähe. Ein Schatten fiel über ihn, und als er nach oben sah, musste er die Augen zusammenkneifen, um durch die von Darius’ Helm reflektierten Sonnenstrahlen dessen von freudiger Erwartung umspieltes Gesicht zu erkennen.
„Mr. Smolsky, was haben wir hier?“
„Nun, ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber wenn Sie es nicht waren, muss hier jemand anderes dieses Ei gelegt haben“, witzelte der Biologe.
Das etwa dreißig Zentimeter große Ei war selbst für die außergewöhnliche Welt nach dem Kometen sonderbar beschaffen. Es glänzte in dem schwärzesten Schwarz, das Darius jemals gesehen hatte, und sah wie poliert aus. Als er näher heranging, entdeckte er an der Oberseite eine kleine Delle, wo anscheinend ein Teil der Schale abgesplittert war. Es war dadurch aber keineswegs zerstört. Die Stelle ließ erahnen, dass die Schale wohl mehrere Zentimeter dick sein musste.
Darius war fasziniert. „Hat es hier gelegen?“
„Genau hier. Wir haben es nicht bewegt“, antwortete Lauren Guinness. Auch sie betrachtete das Fundstück wie einen seltenen Edelstein.
Der Biologe richtete sich auf und schaute auf die Felsen. „Es muss von irgendwo dort oben gekommen sein. Seht ihr die abgesplitterten Schalenteile auf halber Höhe? Da ist es wohl kurz aufgekommen. Wenn es nicht so gefährlich wäre, würde ich hinaufklettern, um nachzusehen, ob dort ein Nest ist.“
Die Kommandantin schüttelte energisch den Kopf. „Daraus wird nichts.“
Darius nickte. „Ich weiß. Schade. Das ist nicht das Ei eines Eluus oder einer anderen bekannten Art, die würde ich erkennen. Wir haben genügend Proben in der Community. Das hier ist neu. Ich habe dergleichen noch nie gesehen, und ich denke, wir sollten es mitnehmen. Wir haben einen passenden Behälter aus Styropor in dem Transportsegment. Was meinen sie beide?“
Der Kopilot stimmte zu, und auch die Kommandantin zeigte sich einverstanden. „Besser, als es hier draußen verrotten zu lassen. Holen Sie den Behälter.“
Darius Smolsky machte sich auf den Weg zurück zum EWAT.
Das Fahrzeug schaukelte hin und her, als es über den weichen, unebenen Waldboden rollte. Außer dem Ei hatten sie auf der Lichtung nichts Außergewöhnliches mehr entdeckt. Das andere Zweierteam hatte noch ein paar Blütenproben genommen, das war’s dann auch schon.
Therese Madison, die Medizinerin, interessierte sich besonders für Pflanzen, von denen sie sich eine heilende Wirkung versprach. Vielleicht konnte man aus dem einen oder anderen Gewächs einen Wirkstoff gewinnen, der desensibilisierend auf die in der Community auftretenden Allergien wirkte.
Darius Smolsky hatte das Ei behutsam vom Boden aufgenommen und es in Luftpolsterfolie eingewickelt, bevor er es in den quaderförmigen Styroporkanister gelegt hatte. Ralph hatte ihm dabei zugesehen und befunden, er würde dabei wie ein Chirurg bei einer Operation aussehen. Darius hatte Ralph daraufhin den Kanister tragen lassen, und der Kopilot hatte feststellen müssen, dass nicht das sichere Verpacken, sondern das Ei selbst das sprichwörtlich Schwerwiegende war.
Therese betrachtete den auf einem Regal festgebundenen Behälter durch dickes Panzerglas vom Hauptsegment des EWATs aus. Das Transportsegment hatte aus Sicherheitsgründen eine eigene Schleuse nach draußen und konnte auch nur von außerhalb erreicht werden. Man konnte es aber durch eine Fensterscheibe kontrollieren. Bei den holprigen Fahrten kam es schon einmal vor, dass während der Fahrt etwas verrutschte.
Die Medizinerin gähnte. Das Schaukeln des EWATs machte sie immer müde, und so verschlief sie, wie jetzt, die meiste Zeit auf einer Pritsche sitzend und den Kopf an die gepolsterte Wand gelehnt. Ihr Blick ging durch die Scheibe und durch das nur von einer rötlichen Notbeleuchtung erhellte Transportsegment hindurch ins Nichts.
Plötzlich scherte das Fahrzeug mit einem Ruck aus und schüttelte die dösende Therese gehörig durch. Im Segment hinter ihr rumpelte es und sie selbst wäre beinahe von der Liege gefallen.
„Mein Gott, was soll das, Mr. Smith?“ Ihre Stimme schwankte zwischen Verärgerung und Schlaftrunkenheit. „Noch so eine Aktion und ich muss meine medizinischen Dienste selbst in Anspruch nehmen!“
Aus der Steuerkanzel hörte sie gedämpft eine Männerstimme antworten, die irgendwas von „Sorry, Baumstumpf zu spät gesehen, vielleicht mal anschnallen“ brabbelte.
Der Vorfall war aber schnell wieder vergessen und Therese in gewohnter Position dabei, ins Reich der Träume zu gleiten, doch kurz bevor sie ihre Augen endgültig schloss, sah sie etwas Schwarzes durch den Bildausschnitt des Segmentfensters huschen.
Im nächsten Moment knallte etwas mit voller Wucht gegen die Scheibe und machte dabei ein Geräusch wie ein großer feuchter Lappen. Die Medizinerin hatte ihre Augen nicht einmal für eine Zehntelsekunde geschlossen. Starr vor Schreck saß sie kerzengrade und mit weit aufgerissenen Augen da und konnte erst nach ein paar Sekunden und heftigen Atemstößen einen kurzen schrillen Schrei von sich geben.
Mit einer unmerklichen Verzögerung kam der EWAT zum Stehen. Ein leises Pfeifen ertönte, als die hydraulischen Standbremsen angezogen wurden, und schnelle Schritte näherten sich aus den vorderen Teilen. Binnen weniger Augenblicke stand die gesamte Mannschaft vor der immer noch völlig perplexen Therese Madison.
„Was ist passiert?“, fragte Darius Smolsky alarmiert.
Therese erwachte aus ihrer Starre und schluckte schwer. „Da … da war etwas im Transportsegment … Etwas Lebendiges!“
Ein kurzer Augenblick ungläubiger Stille, dann ruckten die Köpfe der vier anderen zum Fenster. Dort sahen sie undeutlich einen Schatten herumwirbeln, der keine feste Form zu haben und pausenlos in Bewegung zu sein schien. Dann flog wieder etwas gegen die Scheibe und alle schraken zusammen.
Darius Smolsky war der Erste, der seine Sprache wiederfand: „Verfluchte Scheiße!“
Aus dem Bericht der EWAT-Forschungsexpedition NORD
Darius Smolsky, Biologe, Community London
( …) Heute Morgen fanden wir das Ei einer unbekannten Spezies und nahmen es zu Forschungszwecken gut verpackt an Bord. Später am Tag kam es zu einem Zwischenfall: Durch die Erschütterung eines plötzlichen EWAT-Manövers löste sich die Verankerung des Behälters an der Regalwand des Transportsegments. Das Ei zerbrach beim Aufprall und entließ einen lebenden Organismus, der einen vollständig entwickelten und keinesfalls hilflosen Eindruck machte, in das Segment. Aufgrund der Gefährdung unserer restlichen Proben entschlossen wir uns, das Wesen freizulassen. Wir öffneten die Segmentschleuse und die Kreatur entkam in den Wald.
Bisher gingen wir davon aus, dass es sich bei der unter dem Namen BATERA katalogisierten, fledermausartige Spezies um Säugetiere handelt. Aufgrund dieses Ereignisses ist aber anzunehmen, dass es noch eine zweite, ähnliche Spezies gibt, die Eier legt und möglicherweise Nester baut. Eventuell handelt es sich hierbei auch um eine Mutation.
Die Ausmaße des Eies geben Anlass zur Sorge: Bei einer Größe von dreißig Zentimetern muss von Elterntieren ausgegangen werden, die die Körpergröße eines Menschen wenigstens um das Zweifache übertreffen.
Zum weiteren Vorgehen empfehle ich, eine erneute Expedition in das Fundgebiet zu entsenden. Auch um eine eventuelle Bedrohung …
Hier endete die Aufzeichnung abrupt. Es gab keine Spur von den Mitgliedern der Expedition bei dem verlassenen EWAT, der Wochen später von einem Suchtrupp gefunden wurde. Sie gelten als vermisst.