von Torsten Scheib

Yosemite Valley, Kalifornien, August 1876

„Genug der Tagträume!“ Bekräftigend trieb Harlow Gild die Spitze des Gehstocks in die nachgiebige Erde. Seitdem er vor über dreißig Jahren dem Angriff eines Braunbären nur denkbar knapp entkommen konnte, war der Professor der Boston University auf das getreue Hilfsmittel angewiesen. Doch weder die Versehrtheit noch das Alter konnten den Dreiundsechzigjährigen daran hindern, dem nachzujagen, was er als „sein Lebenswerk“ deklarierte: die Entdeckung des sagenumwobenen Bigfoot!

Gild wusste, dass es ihn gab; es waren keine Hirngespinste – nur er bislang schlicht zu langsam. Bis ihn neuerliche Sichtungen und Hinweise erreichten – per Brief oder jener neuartigen Erfindung namens „Telegraph“ -, waren sämtliche Spuren längst verwischt und verweht und das Aufsuchen der jeweiligen „Tatorte“ vergebliche Liebesmüh’.

Hier indes verhielt es sich anders, waren die Gerüchte doch sehr schnell bis nach Boston vorgedrungen und Gilds Reaktion entsprechend zeitnah erfolgt. Ja, diesmal standen die Erfolgsaussichten außerordentlich gut – sogar noch besser!

„Aber Professor, ich …“, haspelte Fielding Parker, der auf das außergewöhnliche Schauspiel am nachmittäglichen Himmel aufmerksam machen wollte. Keine Chance.

„Kein Aber, Mr. Parker“, beharrte Gild. „Bewundern können Sie die Mammutbäume immer noch. Bauen Sie lieber Stativ und Kamera auf.“

Leuteschinder! Parker setzte den schweren, vollgepackten Rucksack ab, dann die beiden Taschen, die er zusätzlich schleppte. Die Schultern dankten es mit einer Mischung aus Erleichterung und neuerlichem Kribbeln. Klitschnass und ausgelaugt, gestattete er sich den Luxus eines Schlucks aus der Feldflasche, aus der er zusätzlich etwas Wasser auf sein schwitziges Gesicht träufeln ließ. Assistent des ehrwürdigen Professor Harlow Gild – den Posten hatte er sich anders vorgestellt. Doch was tat man als junger Student nicht alles, um voranzukommen?

„Unglaublich …“ Gild kniete im Gras und fuhr die Ränder des ungewöhnlichen Fußabdrucks nach. Doppelt so breit wie seine Hände – zusammengelegt. Weder stammten sie von einem Bären, Berglöwen oder Puma, und schon gar nicht von einem Menschen. Nur ein Wesen besaß drei Zehen und solche Abdrücke.

„Endlich bin ich dir auf die Schliche gekommen, alter Knabe“, wisperte Gild und erhob sich wieder. Weiter oben auf der Anhöhe wartete bereits der nächste Abdruck auf ihn.

„Kommen Sie, Mr. Parker!“

Ich gebe auf. Verdrossen ließ Fielding die Schultern sinken. Prustend klemmte er das Stativ mit der darauf montierten Kamera unter den Arm und folgte Gild.


„Keine Stunde alt“, vermutete der Professor und pickte ein feines Haarbüschel auf. „Was halten Sie davon?“

„Soll ich davon eine Aufnahme machen?“

„Ich bitte darum. Ich analysiere sie später.“ Aus der Hosentasche nahm Gild ein Tütchen aus Wachspapier und verpackte das Büschel darin.

„Können wir?“

Die Spitze des Gehstocks war auf Fielding ausgerichtet. „Sie halten nicht viel von mir, mein Junge“, nahm der Professor kein Blatt vor den Mund. „Oder von meiner fixen Idee, diese sagenumwobene Kreatur zu finden. Von meiner Überzeugung, dass sie existiert. So ist es doch.“

„Ich tue, was Sie mir sagen“, konterte der junge Mann möglichst neutral. Es fiel ihm nicht leicht. Wesentlich barschere Wörter lagen bereits in Lauerstellung. Sie auszusprechen, war äußerst verlockend. Die Beherrschung fiel ihm dementsprechend schwer. In manchen Situationen hilft selbst die Vernunft kaum weiter.

„Nun gut.“ Der Professor verließ den Fokus der Kamera. „Sie wissen, was zu tun …“ Gild unterbrach sich mitten im Satz, als er einen zufälligen Blick zum Himmel warf und die sonderbaren Bänderungen in Grün und Blau bemerkte.

„Was zum Teufel ist das? Polarlichter?“

„Genau darauf wollte ich Sie vorhin aufmerksam machen, Herr Professor“, beschwerte sich Fielding.

Gild ging nicht darauf ein. „Das ist in höchstem Maße verwunderlich!“

Da erklang ganz in der Nähe ein Schrei. Der Professor hielt kurz inne, dann stakste er los und erklomm den Rest der Anhöhe. „Rasch, Mr. Parker! Da benötigt jemand unsere Hilfe!“

Fielding Parker entfloh ein reichlich deftiger Fluch, während er stolpernd zum Rucksack zurückkehrte und das Gewehr von dessen Seite löste. Entsichert, den Doppellauf geladen. Vorsorglich steckte er eine Handvoll zusätzliche Schrotpatronen ein. Man kann nie wissen.

Bewaffnet und einigermaßen gewappnet folgte er dem Professor.


Nur ein kleiner Junge! Gild fühlte sich sämtlicher Illusionen beraubt, als er des Metallrohrs ansichtig wurde, das der Knabe bei sich trug. An einem Ende wies es eine Art Stempel auf, wie bei einem Brandeisen. In einer sehr bekannten Form. Mit diesem Stempel wurden keine Rinder gekennzeichnet; damit hinterließ man auffällige Spuren! Dieses Bürschchen war der Urheber der Fußabdrücke!

„Du mieser kleiner…“

Schussbereit kam Fielding hinzu – und senkte die Waffe. Wie ein Häuflein Elend kauerte der Junge vor ihnen, die Wangen tränennass glitzernd.

„Was stimmt nicht, Kleiner?“, verlangte der Professor zu wissen. „Warum hast du geschrien?“

Der Junge krauchte hinter einen Findling, als die beiden Wesen erschienen.

„Grundgütiger“, hauchte Gild und wich zurück.

Die Kreaturen schienen einem Fiebertraum zu entstammen – wäre da nicht der eigenartige … Riss hinter ihnen gewesen. Eine Lücke in der Wirklichkeit, durch die man in eine andere Umgebung blicken konnte. In eine trostlose Welt, die aus Ruinen und Sand bestand.

Für Fragen und Staunen blieb keine Zeit. Nun waren die mindestens zwei Meter großen Rattenungeheuer auf Gild und Parker aufmerksam geworden. Unter ihren Fellen zeichneten sich beeindruckende Muskeln ab, als sie zum Sprung ansetzten.

Der Junge war vorläufig zweitrangig.

„Professor! Aufpassen!“

Gild warf sich zur Seite, Fielding drückte ab. Den ersten Rattenmann erwischte es mitten im Sprung. Bevor er den Professor unter sich begraben konnte, wurde er nach hinten gestoßen, stürzte und wand sich am Boden. Seine rechte Schulter war zerfetzt.

Das zweite Monstrum hatte mehr Glück. Bevor Fielding den zweiten Schuss abgeben konnte, landete es vor dem Studenten und stieß den Gewehrlauf beiseite. Fielding drückte zwar ab, doch das Schrot erwischte einzig einen Baum.

Fielding rang mit der Ratte um das Gewehr. Immer wieder musste er vor den zuschnappenden Zähnen ausweichen. Geifer sprühte auf seine Wangen. Nicht lange, dann würde das Rattenwesen die Oberhand gewinnen würde. Es sei denn …

Beherzt trat Fielding Parker dem Gegner zwischen die Beine. Der Zug auf das Gewehr ließ nach. Er riss es wieder an sich – und stolperte rücklings einen Abhang hinunter, bis er vollends das Gleichgewicht verlor und den Rest der Strecke Purzelbäume schlagend überwand.

Ein pelziges Etwas stoppte ihn abrupt.

Benommen und mit verschwommenem Blick sah Fielding zu einem Wesen auf, dessen Erscheinen nicht minder bizarr war wie das der beiden Monstren.

Es gibt ihn wirklich!, schoss es ihm durch den Kopf.

Der verbliebene Rattenmann kam den Abhang herunter – und versuchte abzustoppen, als er den Bigfoot vor sich sah. Gegen dessen Größe musste er sich geradezu klein vorkommen.

Eine haarige Pranke erwischte den Rattenmann am Hals. Fielding verfolgte, wie der Bigfoot seinen Körper gegen einen Mammutbaum schleuderte – und das Procedere wiederholte, bis aus dem Rattenwesen außer einer leblosen Masse kaum noch etwas übrig war.

Dann wandte sich der Bigfoot Fielding zu.

Der warf das Gewehr weg und begann zu laufen. Der Bigfoot folgte ihm nicht. Unbehelligt erreichte Fielding Parker die Höhe des Hangs – und bemerkte mit Schrecken zwei Dinge: Das verletzte Rattenwesen war verschwunden – und statt seiner lag nun der leblose Körper des Professors am Boden.

„O nein!“, stieß Fielding hervor. Doch der Winkel, den Harlow Gilds Kopf einnahm, war unmissverständlich: Genickbruch.

„Das Monster hat ihn getötet“, flüsterte eine Stimme. Der Junge kam zögerlich hinter dem Findling hervor. Weiterhin hielt er das Eisen, mit dem er die Bigfoot-Spuren produziert hatte. „Und dann ist es wieder durch den Riss…“

Er verstummte, und als Fielding sich nach dem Phänomen umschaute, war auch das verschwunden.

Der Junge blickte auf das Konstrukt in seinen Händen. „Es… tut mir so leid. Ich konnte doch nicht ahnen …“, stammelte er und warf das Eisen weg.

„Dich trifft keine Schuld. „Parker schloss dem Professor die Augen. Dann beugte er sich zu dessen Ohr hinab. „Es gibt ihn wirklich“, flüsterte er, obwohl die Worte nicht gehört wurden. „Sie hatten recht, Professor. Ich habe ihn gesehen.“

Er stand auf und winkte dem Jungen.

„Mister …?“, fragte der.

„Wir verschwinden von hier“, sagte Fielding, „und verständigen die Polizei. Auch wenn uns niemand glauben wird.“ Er winkte erneut. „Komm schon! Zurück nach Lancaster!“

1 Comment
  1. halberkapitel 4 Monaten ago

    hey coole geschichte mit origineller pointe. sehr schön geschrieben! angesiedelt im parallelwelten-zyklus, oder gibt es noch andere bezugspunkte?

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