Eine Kurzgeschichte von Halber Kapitel

Rasch zwei Hände kaltes Wasser ins Gesicht, das vor Aufregung glühte. Im Spiegel: angespannte Züge, rot geränderte Augen, rissige Lippen.

Das bin ich. Der bronzene Teint, die ebenmäßigen Brauen, das glatte Kinn mit dem leicht schrägen Grübchen. Ein schönes Gesicht, wäre die letzte Woche nicht gewesen. Jetzt ist es unrasiert und fleckig, abgekämpft. Verrückte Sache. Beinahe jeder Agarther kennt mich – aber kaum jemand mein Gesicht.

In den Filmstudios von Agartha-TV im Stadtteil Wasserspiele
CC BY 4.0 OMXFC

Göleg schnaubte und bohrte die Fingerkuppen in seine Schläfen. Der Kopfschmerz war deutlich schwächer als heute Morgen, aber noch immer fühlte sein Hirn sich dumpf an. Er hatte viel getrunken in den vergangenen Tagen. Er hatte ja auch einiges zu verdauen gehabt, und der Tschang hatte ihm dabei ein wenig Hilfe geleistet. Dieses vergorene Mistzeug.

Schluss jetzt! Du hast genug gegrübelt, rief er sich selbst zur Ordnung, trocknete die Hände und verließ den Waschraum. Hör endlich auf, dich selbst zu bemitleiden, und tu, was du tun musst.

Hinter ihm schloss sich dumpf die Tür. Noch nie hatte Göleg die labyrinthischen Gänge der Agartha TV Studios, Etage B so verlassen erlebt. Wo sich sonst Techniker und Produktionsassistenten tummelten, wo Kabelträger und Promis, Maskenbildner und Senderchefs zwischen Kantine, Büros und Werkstätten hin und her wuselten, flackerte nur eine funzelige Notbeleuchtung. Das Geräusch seiner Schritte war das Einzige, was man hören konnte. Auch die Luft roch anders als sonst. Nach scharfen Putzmitteln, nach dem Mief der stillgelegten Belüftungsanlage, und – nach Blut. Nach Angst. Nach Tod.

Er fragte sich, ob er sich das bloß einbildete. Als könnte ich das Echo der Todesschreie und das Schmatzen der Fresser hören. Das Reißen von Knorpeln und Gewebe.

Ihm wurde flau in der Magengegend. Er sollte eigentlich nicht hier sein. Doch er konnte nicht anders. Sein Rucksack zog schwer an seinen Schultern und klapperte, als er die Gurte festzog.

Rechts ging es zu Studio 5/38. So oft schon war Göleg diesen Weg gegangen. Heute würde er ihn ein letztes Mal beschreiten. In die oberste Etage einzudringen, war dabei viel einfacher gewesen als gedacht: Er hatte gewartet, bis die Pförtnerin ihr Kabuff für einen Toilettengang verließ, dann war er abgeduckt durch die Nebenflure der unteren Etage geschlichen. Willkommen in den heiligen Hallen. Wo gute Unterhaltung zu Hause ist.

Der Sender unterhielt seit Tagen einen Notbetrieb mit Nachrichten und Musikprogrammen aus der Konserve. In Folge des Massakers letzte Woche waren alle Termine abgesagt worden. Und obwohl er den Gedanken zuerst wegzudrücken versucht hatte, konnte er sich nicht dagegen wehren: Dass die große Gala heute ausfiel, schmerzte ihn deutlich mehr als der grausame Tod seiner Kolleginnen und Kollegen. Um ehrlich zu sein: Um Sonamm tat es ihm kein bisschen leid. Der hatte schon genug Ruhm im Leben geerntet. Doch heute Abend hätte Gölegs große Stunde kommen sollen. Hätte.

Das Leuchtschild mit der Aufschrift »Bitte absolute Ruhe – Dreharbeiten!« war zertrümmert, den rotbraun verschmierten Handabdruck darunter hatte die Putzkolonne wohl übersehen.

Als er die Tür zu Studio 5/38 öffnete, bot sich ihm ein erschütterndes Bild. Die Schneekulisse aus Holz und Dämmstoffen, über die er so oft brüllend hatte stampfen müssen, war mit Löchern und Blutspritzern übersät. Stühle, Kameras und Kabel lagen umher, Glassplitter waren notdürftig beiseite gefegt worden.

Hier hatten sie also gewütet… eine ganze Horde jener degenerierter Fresser, die Agartha innerhalb weniger Tage eingenommen hatten. Ihrer Brutalität und ihrer Gier auf Menschenfleisch hatte selbst das hochtechnisierte Militär wenig entgegenzusetzen gehabt; viel zu langsam bekamen die Verantwortlichen die Invasion in den Griff.

Göleg zuckte mit den Schultern und wandte sich seinem Garderobenplatz zu, der seitlich der Kulissen durch Vorhänge abgetrennt war. Hier hing sein Kostüm, wie immer geschützt durch eine dünne Folie. Es war unbeschädigt. Ein makellos weißer Pelz, ledrige Pranken, eine perfekt sitzende Gummimaske. Die affenartige Schnauze war mit eindrucksvollen Hauern bestückt, die Augenpartie mit ihren Lachfalten wirkte hingegen sympathisch und frech.

Yeti und Mesnaar in „Der lustige Yeti“, einer Sitcom auf Agartha TV
CC BY 4.0 OMXFC

Der lustige Yeti. Seit zehn Jahren die erfolgreichste Sitcom im agarthischen Fernsehen. Der Bergsteiger Messnar jagt den Schneemenschen, und immer wieder trickst der Riese seinen Verfolger aus.

Sonamm, dieser arrogante Drecksack, war mit der Rolle des bärtigen Einfaltspinsels berühmt geworden. Doch ihn, den Hünen im Ganzkörperkostüm, würdigte er hinter den Kulissen kaum eines Blickes. Höchstens mal ein kümmerliches Witzchen über seine unkomfortable Größe, um irgendeine Praktikantin auf seine Kosten zum Kichern zu bringen. Endlich hast du deinen letzten Atemzug getan, Arschloch. Das Publikum hingegen liebte zwar den Yeti, doch für den Schauspieler, der unter dem Fell schwitzen und schuften musste, interessierte sich niemand.

Göleg setzte sich in den Schminksessel seines Filmpartners. Er lehnte sich federnd zurück, schloss die Augen und stellte sich vor, wie die Klauen eines dieser fischmäuligen Monster nach Sonamm gegrabscht hatten. Wie das Vieh ihn mitten in sein Gesicht biss. Wie sich seine Zähne in die Augäpfel bohrten, der Schädel zerbarst und ein letztes Röcheln im Blutstrom erstickte, während das Monster seinen warmen Leichnam zerpflückte.

Ein zufriedenes Glucksen begann aus dem Brustkorb des Hünen emporzuperlen, wurde zu einem fröhlichen Grinsen und brach sich schließlich in einem schallenden, befreienden Gelächter Bahn. Ein Gelächter, dessen er sich nicht im Geringsten schämte.

Der große Sendesaal. Irgendwo hier muss doch der Lichtschalter – ach da. Funktioniert. Hier hatten die Monster nicht gewütet. Vor dem rotem Samtvorhang hatte man schon vergangene Woche das Rednerpult eingerichtet, die gepolsterte Bestuhlung war mit Schonern abgedeckt.

Nachdem er in seinem Yetikostüm in die Bühnenmitte gestapft war, die Arme emporgerissen und seinen charakteristischen Brüller gebrüllt hatte, tänzelte Göleg um die eigene Achse und räusperte sich dann.

»Meine Damen und Herren, liebe Jury, hochverehrtes Publikum! Es ist mir eine Ehre, heute stellvertretend für das ganze Team den Ehrenpreis für die Kultserie des Jahrzehnts entgegenzunehmen«, redete er in den leeren Zuschauerraum hinein. »In Absprache mit Redaktion und Produzentin, der Senderleitung und natürlich meinem geschätzten Schauspielkollegen erleben Sie alle heute eine Premiere: Der Yeti zeigt Ihnen erstmals sein wahres Gesicht! Aber Sie müssen sich keine Sorgen machen, Sonamm. Oder doch?«

Mit dieser lockeren Bemerkung hätte sicher Applaus und ein paar Lacher geerntet.

»Oh, ich sehe gerade, Sonamm ist gar nicht da«, fuhr er fort. »Stimmt, jemand hat ihn aufgefressen. Wie überhaupt alle – Beleuchter, Regie, Maskenbildner, Toningenieure – alle verputzt. Sogar den Hospitanten. Schade. Sie fragen sich, warum ich noch da bin? Ich hatte an diesem Drehtag frei. Ende der Geschichte. Keine Pointe. Bloß Glück. Oder Schicksal, keine Ahnung.«

Während er sprach, öffnete Göleg seinen Rucksack und holte einen Kanister, ein Kästchen sowie ein stählernes Gefäß hervor. Eine Urne.

»Ich hätte den Preis gern entgegengenommen. Ich hätte euch gern gezeigt, dass ich mehr zu bieten habe als rumzubrüllen und die Keule zu schwingen. Das wäre sicher ein netter Abend geworden! Da nun alles anders gekommen ist und ich die Chance auf ein bisschen Ruhm wohl nicht mehr kriegen werde…«, er schraubte den Urnendeckel auf und zog ein eingerolltes Portraitfoto hervor, »… soll mein Gesicht eben auf diese Weise unsterblich werden.«

Szene aus „Der lustige Yeti“
CC BY 4.0 OMXFC

Göleg schob das Foto in die Urne zurück, leerte dann den Inhalt des Kanisters über den Holzboden und die Vorhänge aus. Ein beißender Geruch nach Benzin verbreitete sich.

»Feuerfest!« Er klopfte auf die Urne. Wenn hier alles niedergebrannt ist, wird irgendein Ermittler mein Bild aus den Trümmern bergen. Dann werdet ihr erfahren, wie der Kerl aussah, der euch so oft zum Lachen gebracht hat. Für Autogrammanfragen ist es dann allerdings zu spät. Es sei denn, ihr findet mich irgendwo da draußen – ein Schneemonster, das einsam über das Gebirge stapft.«

Er öffnete das Kästchen, legte einen kleinen Schalter um und stellte es in eine der ölig schimmernden Lachen. Ein Zeitzünder, eingestellt auf fünf Minuten. Göleg schloss die Augen, sog den Benzingeruch durch seine bebenden Nasenlöcher, hörte das Ticken seiner kleinen Bombe und gab sich einem sentimentalen Lächeln hin. Auf geht’s. Raus aus der Stadt. Für immer.

Er bereitete sich darauf vor, in einer theatralischen Geste die Maske abzunehmen.

Das klatschende Geräusch, das plötzlich von irgendwoher aus dem Zuschauerraum hallte, war ganz sicher kein Applaus. Oder?

Göleg hielt den Atem an. Hatte ihn jemand beobachtet? War er auf frischer Tat ertappt worden? Würde man ihn festnehmen und ins Gefängnis werfen? Das wäre ganz und gar nicht der spektakuläre Abgang, den er sich ausgemalt hatte.

Die Stoffbahn über einer der Sitzreihen bewegte sich. Erneut ein Klatschen. Doch, tatsächlich. Jemand klatscht Beifall! Darunter mischte sich ein Grunzen. Und ein Knirschen. Das Knirschen von Zähnen.

»Wer ist da?« Keine Antwort.

Das weiße Tuch riss und eine seltsame verkrümmte Hand umfasste von hinten eine Rückenlehne. Eine Gestalt erhob sich schwankend, unbekleidet bis auf ein lumpiges Hemd. Eine Frau! Die graue Haut und die unbewegten Augäpfel ließen keinen Zweifel daran, dass sie nicht mehr lebte.

Dem Mann im Yetikostüm stockte der Atem. Der Fresser öffnete in einer grotesken Ausholbewegung seine Kiefer und… lachte! Gülem wich einen Schritt zurück. Wahrhaftig, aus dem Maul der Kreatur, die sich über die Sitzreihen hinweg einen Weg zu ihm bahnte, erklang ein Lachen. Und Wortfetzen, die sie zu formen bemüht war: »Bravo…«, verstand Gülem, »Yeti….«

Der Zombie kam näher.

»Bin … Fan!« Die Worte drangen nur schwerlich aus dem lippenlosen Mund. Dann stand der Fresser vor ihm, Aug in Aug mit einem Yeti. Klein war die Frau, nicht größer als anderthalb Meter. Beinahe zärtlich strich sie mit der deformierten Klaue über das weiße Fell des Bergmenschen.

Göleg atmete ruhig ein und aus. Er musste klar im Kopf bleiben. Klar im Kopf. Die Gedanken tanzten wild in seinem Schädel. Ich wollte verschwinden und mir zuvor ein flammendes Denkmal setzen. Ich wollte …

Ruhig zog er sich die haarige Gummimaske vom Kopf. Das Wesen schrie wie vor Begeisterung, und beinahe war es, als glimme in seinen erloschen Augen ein Funken von Leben. Als wäre es glücklich.

Die Pranken des Yeti strichen freundlich über die raue Haut des Fressers. Ein Fan, dachte Göleg und musste unwillkürlich lächeln, ehe er sich vorbeugte. Ein wahrhaftiger Fan. Sein Herz raste, seine Lippen formten sich zu einem Kuss.

Als sie ihn biss, wehrte er sich nicht. Und als die Bombe detonierte, war Göleg längst ein anderer.

6 Comments
  1. Heulergriep 12 Monaten ago

    Sehr gut, in einem Band habe ich sie schon mal gelesen. Gerne mehr davon.

    • Holger 12 Monaten ago

      Danke für das Feedback!
      Ja, es wird noch mehr Kurzgeschichten geben, so es denn noch weitere (Hobby-)Autoren gibt, die ihre Kurzgeschichten zur Verfügung stellen wollen. Aber ich darf schon mal ankündigen, dass für die nächsten 3 Samstagslücken Einsendungen vorliegen.

  2. Lanfear 12 Monaten ago

    also noch drei mal lesen gesichert. Ich finde das Klasse. Ich lese das alles gerne😉😂

  3. Author
    halberkapitel 12 Monaten ago

    danke für das nette feedback. freue mich auf alles, was da kommt!

  4. marco 11 Monaten ago

    Sehr gut gefallen mir die unterstreichenden Fotos in den Kurzgeschichten. Gerne beibehalten.

    • Holger 11 Monaten ago

      Danke für Deinen Kommentar!
      So lange noch genug Autoren ihre Kurzgeschichten zur Verfügung stellen, wollen wir das mit den Illustrationen auf jeden Fall beibehalten.

Leave a reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

©2024 Holger Ehrmann für den OMXFC

Log in with your credentials

Forgot your details?